Beschwerde gegen Vorratsdatenspeicherung – Hintergrund

Die Digitale Gesellschaft hat beim Dienst Überwachung Post- und Fernmeldeverkehr (Dienst ÜPF) im Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartement (EJPD) Beschwerde gegen die Vorratsdatenspeicherung in der Schweiz eingereicht. Sie wird ihre Beschwerde nötigenfalls bis zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) weiterziehen.

Siehe auch:

1 – Vorratsdatenspeicherung und Grundrechte

Als Vorratsdatenspeicherung wird die Pflicht von Anbieterinnen von Post- und Fernmeldediensten bezeichnet, zahlreiche Daten insbesondere über Telefon- und Internet-Kommunikation mindestens sechs (vielleicht bald mindestens zwölf) Monate zu speichern. Polizei und Staatsanwaltschaften können diese Daten von Swisscom und anderen Anbieterinnen anfordern, wenn sie ihnen für die Ermittlung einer mutmasslichen Straftat wichtig erscheinen.

Bei der Vorratsdatenspeicherung geht es insbesondere um Daten, aus denen hervorgeht, wer wann und mit wem kommuniziert hat. Bei Handys gehören jeweils auch Standortdaten dazu, dass heisst wo sich das Handy zum betreffenden Zeitpunkt befand.

Es ist nachvollziehbar, dass solche Daten für Strafverfolgungsbehörden interessant sein können. Daraus folgt aber nicht zwingend, dass es im Rahmen einer demokratischen Gesellschaft richtig und angemessen ist, diese Daten zu erheben, zu speichern sowie für Polizei und Staatsanwaltschaften zugänglich zu machen.

Zwar gehört es einerseits zu den Grundprinzipien jeder demokratischen Gesellschaftsordnung, dass Polizei und Staatsanwaltschaften über die notwendigen Mittel verfügen müssen, um insbesondere bei schweren Verbrechen mit einer hohen Wahrscheinlichkeit die Täter ermitteln zu können. Andererseits muss jede demokratischen Gesellschaftsordnung aber auch als solche geschützt werden – etwa davor, dass sich ein Land zu einem Polizeistaat entwickelt.

Wenn etwa in einem Land die Strafverfolgungsbehörden unbeschränkten Zugriff auf eigentlich private Kommunikation erhalten, kann von einer demokratischen Gesellschaft keine Rede mehr sein. Dann ist die politische Macht nämlich nicht mehr in der Hand des Volkes, sondern in den Händen von Polizei und Staatsanwalt­schaften: Journalisten im Besonderen können ihre Pflichten betreffend Quellenschutz nicht mehr erfüllen, das Berufsgeheimnis von Anwälten besteht nur noch auf dem Papier und Politiker werden erpressbar. Ausserdem erlebt jede und jeder zumindest im Familien- oder Freundeskreis Situationen, wo gesetzliche Vorschriften verletzt werden, und die Behörden davon allein durch Kommunikationsüberwachung Kenntnis nehmen können. Wenn man nun staatlichen Stellen unein­geschränkte Möglichkeiten zur Kommunikationsüberwachung gibt, ist die Gefahr gross, dass diese Möglichkeit spezifisch für das Aufspüren von Straftaten im Leben sowie im Familien- und Bekann­tenkreis von Menschen mit bestimmten politischen Ansichten eingesetzt wird. Und schon ist ein Polizeistaat entstanden…

Für den Schutz der demokratischen Gesellschaftsordnung ist es in der heutigen Zeit nicht nur wichtig, umfassende Überwachung durch staatliche Stellen zu verhindern. Wenn private Unternehmen, die ihre Interessen in politischen oder wirtschaftlichen Prozessen durchsetzen wollen, dabei auf allzu viele eigentlich persönliche Informationen zugreifen können, ist das mindestens genauso gefährlich. Anbieterinnen von Post- und Fernmeldediensten sollten nur jene Daten sammeln dürfen, die für die Erbringung ihrer Leistungen zwingend erforderlich sind.

2 – Beschwerdeweg zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte

Die notwendigen Rechtsgrundsätze zum Schutz der demokratischen Gesellschaftsordnung  werden zusammen anderen Prinzipien zum Schutz der Menschenwürde als Grundrechte bezeichnet. Diese gelten zwar nicht absolut, sie dürfen aber unter bestimmten Voraussetzungen wie insbe­sondere Verhältnismässigkeit, einem überwiegenden öffentlichen Interesse und einer klaren gesetzlichen Grundlage eingeschränkt werden.

In der Schweiz gibt es kein Gericht, das den Auftrag hätte, Bundesgesetze daraufhin zu prüfen, ob sie mit der Bundesverfassung und den darin verankerten Grundrechten überhaupt vereinbar sind. So wurden beispielwweise in Deutschland durch den Bundesgerichtshof (BGH) beispielsweise die Bestimmungen zur Vorratsdatenspeicherung am 2. März 2010 für nicht erklärt.

Dennoch gibt es auch in der Schweiz einen Weg, um gerichtlich prüfen zu lassen, ob durch die Vorratsdatenspeicherung Grundrechte verletzt werden. Die Bundesverfassung gewährleistet auch die Grundrechte gemäss der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK). Die Digitale Gesesellschaft wird deshalb nötigenfalls Beschwerde beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Strassburg einzureichen.

Die formelle Voraussetzung für eine solche Beschwerde besteht darin, dass der Rechtsweg in der Schweiz erfolgslos ausgeschöpft wurde. Behörden und Gerichte in der Schweiz haben den Auftrag, gemäss den bestehenden Gesetzesbestimmungen zu entscheiden und diese nicht grundsätzlich in Frage zu stellen. Deshalb ist damit zu rechnen, dass der Rechtsweg in der Schweiz gegen die Vorratsdatenspeicherung erfolglos sein wird. Aber wenn die einzige Möglichkeit, beim EGMR in Strassburg Recht zu erhalten, darin besteht, geht die Digitale Gesellschaft diesen Weg.

3 – Erster Schritt: Beschwerde beim Dienst Überwachung Post- und Fernmeldeverkehr

Der erste Schrit bestand in einem Gesuch an die zuständige Stelle der Bundesverwaltung, dem Dienst Überwachung Post- und Fernmeldeverkehr (Dienst ÜPF). Es ist davon auszugehen, das der Dienst ÜPF das Gesuch ablehnen wird. Danach würden Beschwerden gegen diesen ablehnenden Entscheid an das Bundesverwaltungsgericht in St.Gallen und an das Bundesgericht in Lausanne folgen. Erst nach einem ablehnenden letztinstanzlichen Entscheid durch das Bundesgericht könnte der EGMR in Strassburg angerufen werden. Die Digitale Gesellschaft geht davon aus, beim EGMR ein positives Urteil in ihrem Sinn erwirken zu können.

Nach Ansicht der Digitalen Gesellschaft verletzt die Vorratsdatenspeicherung schweizerische und europäische Grundrechte. Das Gesuch enthält insbesondere folgende Aspekt als Begründung:

  • Vorratsdatenspeicherung und davon betroffene Grundrechte;
  • Ungenügende gesetzliche Grundlage für Vorratsdatenspeicherung;
  • Fehlendes überwiegendes öffentliches Interesse an Vorratsdatenspeicherung;
  • Fehlende Verhältnismässigkeit der Vorratsdatenspeicherung;
  • Verletzung von Grundsätzen des Datenschutzes durch Vorratsdatenspeicherung;
  • Problematik der Datensicherheit der gespeicherten Vorratsdaten;
  • Kritik an Vorratsspeicherung von Daten aller Menschen mit entsprechender Verknüpfung von Informationen – teilweise mittels automatisierter Prozess –, wodurch auch zuvor unverdächtige Menschen zu Verdächtigen werden.

Die Digitale Gesellschaft ist ein offener Zusammenschluss netzpolitisch interessierter Gruppen und Einzelpersonen. Die Beschwerde gegen die Vorratsdatenspeicherung wird unter anderem durch die Wau Holland Stiftung, den Verein grundrechte.ch, den Chaos Computer Club Zürich (CCCZH), die Swiss Privacy Foundation, die Enter AG (Hartwig Thomas) und die Swiss Internet User Group (SIUG) ermöglicht.