Weshalb wir als Bürger:innen mehr spekulieren sollten

Mehr Science-Fiction für die Demokratie!

(Wie) wollen wir die Demokratie digitalisieren? Diese Frage geht uns alle etwas an. Und sie führt uns unweigerlich auf ein spekulatives Terrain. Denn wir können sie nur beantworten, wenn wir uns damit auseinandersetzen, in welcher zukünftigen (digitalen) Demokratie wir leben wollen. Deshalb sollten wir als Bürger:innen vermehrt zu Science-Fiction-Autor:innen für die Demokratie werden. Genau das machten wir auch während unseres Workshops am Winterkongress 2021.

Dieser Gastbeitrag stammt von Anna Boos, Jeannie Schneider und Ramona Sprenger vom Dezentrum

Das Bundeshaus im Science Fiction Look. Wie stellen wir uns eine Demokratie im Jahr 2050 vor? (Bildcollage: Ramona Sprenger)

«Es ist Nachmittag. Skye kommt gerade aus der Mittagspause und startet den Holobildschirm.

Als Rekrutes der Kohorte 7B des Service Citoyenes hat Skye die Aufgabe, das heutige Politforum zu moderieren. Die neue Diskussionsplattform ist Teil des ‹Démocracie Forte›-Programms, zu dem auch der Service Citoyenes gehört. Dieser obligatorische Politstammtisch ist noch in der Pilotphase. Und nur sehr selten findet darauf eine wirklich respektvolle Diskussion statt.

Skyes Aufgabe ist es, die Plattform zu moderieren, um einen möglichst respektvollen Umgang zu gewährleisten. Das würde heute nicht einfach sein, Skye stellte sich schon mal darauf ein. Bereits in der Kantine des Service Citoyenes war die Stimmung unruhig und lauter als sonst. Man hatte die Neuigkeit soeben vernommen, was bereits an den Mittagstischen für heftige Diskussionen sorgte. So erstaunt es Skye nicht, dass das Thema auch auf sämtlichen Plattformen trendet: Obliviscis.

Der Staat hat eine Pille entwickelt, die es Menschen offenbar ermöglichen sollte, unter kontrollierten Rahmenbedingungen die eigene Person während ungefähr vier Stunden zu vergessen. Die Pille bewirke eine Verschmelzung zwischen dem Ich und der Gemeinschaft, womit egoistische und partikulare Interessen zurückgedrängt würden. Die Folgen wären ein gesteigerter Gemeinschaftssinn und geschärfte kognitive Fähigkeiten. Alle sollten endlich der Gemeinschaft dienende Entscheide treffen können. Obliviscis solle auf diese Weise Solidarität und Gemeinschaft in ein Land bringen, welches so lange gespalten wurde von Hass und Lügen, Ungleichheit und Armut.

Wie Skye bereits befürchtete, scheint Obliviscis tatsächlich im Politforum das einzige Thema zu sein. Die Stimmung ist aufgeheizt. Auch für Skye ist es schwer nachvollziehbar, wieso die Pille gerade jetzt eingeführt werden sollte.

«Nicht abschweifen», denkt sich Skye und konzentriert sich wieder auf die Diskussion im Politforum: Zwar hatte sich das Vertrauen in den Staat und in Experteswissen signifikant verbessert; aber die neue “Staatsdroge” schürt wohl wieder alte Ressentiments. Skye hat den Überblick völlig verloren. Wie viele Gänsefüsschen sie schon vor dem Satz «keine» Nebenwirkungen gelesen hat.

Jemand redet von 5G und Skye muss erst googlen, was damit überhaupt gemeint ist. Sie kann sich ein hörbares Lachen nicht verkneifen und versucht sich vorzustellen, was in den Boomerköpfen wohl so vorgegangen war, zu der Zeit, als plötzlich die ganze Welt von einem Ding wie dem Internet umgekrempelt wurde.

Gleichzeitig wird der Ton immer harscher. Manche Diskutierende verheddern sich in fadenscheinigen Argumenten, und immer mehr Beleidigungen mischen sich in die Sätze. Skye kommt fast nicht mehr nach mit der Moderation, dann wird auch noch sie selbst zur Zielscheibe. Schliesslich sei ja auch sie «vom Staat» und das ganze Politforum sowieso ein Werkzeug staatlicher Indoktrinierung.

Ihr BeFit vibriert leicht und auf dem kleinen Screen erscheint ein Wasserglas. Sie muss eine Pause machen und schaltet ihren Holobildschirm auf Standby. Skye holt sich ein Glas Wasser und kann den Blick doch nicht von dem dunklen Screen lösen. Sie atmet tief durch, so wie es ihr das BeFit gerade nahegelegt hat.

In den zwei Minuten ihrer Pause gab es bereits wieder 50 neue Kommentare die orange, also zu überprüfen wegen dünner Faktenlage, eingestuft wurden. Skye brummt der Kopf, inzwischen kommt ihr diese ganze Übung nur noch zermürbend vor. Ob sie diese Aufgabe in Zukunft überhaupt noch machen muss, wenn Obliviscis tatsächlich eingeführt würde?»

Dies ist ein Ausschnitt einer Kurzgeschichte, die ein mögliches Zukunftsszenario für die Demokratie im Jahre 2050 erzählt. Das Dezentrum hat sie im Rahmen einer TA-SWISS-Studie zum Thema digitale Demokratie verfasst. Was wäre, wenn die Zukunft der Demokratie tatsächlich im Zeichen des «Service Citoyenes» und «Obliviscis» steht? Wäre das ein wünschenswertes Szenario? Wie soll eine (digitale) Demokratie in Zukunft aussehen?

Diese Fragen müssen verhandelt werden – und zwar demokratisch. Schliesslich ist unbestritten, dass die Digitalisierung tiefgreifende Veränderungen für die Demokratie mit sich bringt. Manche davon sind wünschenswert, manche weniger. Wie jede technologische Innovation bringt die Digitalisierung nicht nur Chancen, sondern auch Risiken mit sich. Als Gesellschaft stehen wir nun vor der Herausforderung, Wege zu finden, wie wir die Chancen nutzen können, ohne aber dabei die Risiken ausser Acht zu lassen. 

Mut zur Spekulation!

Die Demokratie digitalisiert sich nicht von selbst. Digitalisierung ist ein von Menschen gestalteter und gestaltbarer Prozess, der möglichst viele Stimmen miteinbeziehen sollte. Wir wünschen uns deshalb einen öffentlichen und inklusiven Diskurs darüber, wie wir uns eine wünschenswerte (digitale) Demokratie vorstellen und diese realisieren können.

Hier – so unsere These – dürfen wir uns öfter und mehr von Science-Fiction inspirieren lassen. Wir können uns nur von der Gegenwart lösen, indem wir mutig sind und neue Konzepte testen. Selbst wenn diese aus heutiger Sicht vielleicht unplausibel erscheinen: Nicht die präzise Voraussage über die Zukunft ist wichtig. Sondern vielmehr, dass wir als Gesellschaft gemeinsam darüber diskutieren, welche Zukunft wir wollen. Insofern ist es sinnvoller, nicht von der Zukunft, sondern viel eher von Zukünften zu sprechen. 

Welche Zukunft wollen wir (nicht)?

Mit unserem Workshop am Winterkongress 2021 verfolgten wir genau dieses Ziel: Wir luden das Publikum ein, sich mit uns auf spekulatives Terrain zu begeben. Gemeinsam dachten wir über die Frage nach, wie wir als Gesellschaft in Zukunft Dinge aushandeln. Wo und wie wird in einer Demokratie 2050 diskutiert und debattiert?

Konsens bei den Teilnehmenden herrschte vor allem bei der Vorstellung, was wir nicht wollen: Die Art und Weise wie beispielsweise Informationen auf digitalen Diskursplattformen kuratiert werden, sollte nicht mehr länger in den Händen privater, profitorientierter Technologie-Konzerne liegen. Schliesslich seien deren Geschäftsmodelle allzu oft darauf ausgelegt, die Interaktion der Nutzer:innen auf den Plattformen zu maximieren. So werden aufmerksamkeitsheischende Beiträge, die möglichst viele Klicks, Likes und Shares generieren, gegenüber anderen Inhalten bevorzugt. Und das sind meist Beiträge mit kontroversen, extremen und emotionalen Inhalten. Was zählt, ist somit nicht die Qualität des Inhaltes, sondern die «clickability». Das – so die Befürchtung – führe zu einer polarisierenden Diskussionskultur, welche langfristig drohe, eine Demokratie zu untergraben.

Die Workshopteilnehmenden waren sich deshalb einig: Es braucht alternative Modelle, z. B. in Form von dezentralen, demokratisch organisierten Diskursplattformen, wo Anliegen zu Gunsten des besten und nicht des lautesten Argumentes ausgehandelt werden.

Diskussionsbedarf gab es wie erwartet bei der Frage, wie denn eine solche Alternative konkret aussehen könnte. Nach welchen Kriterien würden Inhalte auf den zukünftigen Plattformen kuratiert? Zum einen müssten Bürger:innen auf diejenigen Informationen Zugriff haben, die für sie relevant und interessant sind. Zum anderen müsste aber auch potentiellen Filterblasen entgegengewirkt werden. Wäre hier ein zufälliger Matching-Algorithmus eine Lösung, um Menschen mit unterschiedlicher Gesinnung zusammenzubringen?

Zudem muss die Synthese gewährleistet werden, es bedarf also eines Systems, in welchem die Diskussionsstränge moderiert, immer wieder zusammengefasst und eingeordnet werden. So könnte verhindert werden, dass sich Nutzer:innen in Diskussionen verlieren und in sogenannte Rabbit Holes abdriften. Aber wer übernimmt diese Rolle? Wer sorgt ausserdem dafür, dass alle gleichberechtigt zu Wort kommen? Beispielsweise könnte man hier Mitglieder der Zivilgesellschaft nominieren oder das Los entscheiden lassen. Oder wäre es sogar denkbar, dass im Jahr 2050 intelligente Bots diese Aufgabe übernehmen werden?

Zukünfte partizipativ verhandeln

Selbstverständlich konnten wir all diese Fragen nicht in einem knapp 45-minütigen Workshop ausdiskutieren. Dennoch konnten wir gemeinsam neue Ideen spinnen. So ging es uns in diesem Workshop hauptsächlich darum, eine spekulative Denkweise zu vermitteln, die langfristig Früchte trägt. Je länger und je geübter man sich mit Zukünften auseinandersetzt, desto konkreter werden die Vorstellungen. Das zeigt der anfangs zitierte Ausschnitt der Kurzgeschichte: Er gibt einen Eindruck, was dabei herauskommen kann, wenn man sich längerfristig mit solchen – und weiteren – Fragen befasst.

Diese Kurzgeschichte ist – wie bereits erwähnt – Teil einer grösseren Studie. Im Auftrag der Stiftung für Technologiefolgenabschätzung Schweiz (TA-SWISS) entwickelte das Dezentrum gemeinsam mit Fach- und Alltagsexpert:innen wünschenswerte Zukunftsszenarien für die (digitale) Demokratie im Jahr 2050. TA-SWISS, welche bekanntlich Studien von hoher wissenschaftlicher Qualität herausgibt, wagt sich damit erstmals auf ein spekulatives Terrain. Ziel der Studie ist es, Zukünfte für die Demokratie mittels bildlicher Szenarien verhandelbar zu machen. 

Basierend auf einer sorgfältigen, expert:innengestützten Einflussanalyse entstanden drei Szenarien, welche in Form von drei Kurzgeschichten verfasst wurden. Für jedes dieser drei Szenarien fertigten wir ausserdem ein spekulatives Artefakt an. Letzteres sind Objekte, welche im übertragenen Sinne aus einer zukünftigen Welt stammen und die Szenarien versinnbildlichen. Spekulative Artefakte machen abstrakte Zukunftsvorstellungen wortwörtlich greifbar. Denn je konkreter Zukunftsvorstellungen gemacht werden können, desto leichter fällt uns die Auseinandersetzung damit.

Durch ihr futuristisches Erscheinungsbild  erregen die Artefakte Aufmerksamkeit und verkörpern Normen, die im Widerspruch mit denen unserer Zeit stehen. So sorgen sie beim Publikum für Gesprächsbedarf, regen Diskussionen an und halten diese in Gang. Auf diese Weise können komplexe Diskurse rund um Demokratie und Digitalisierung Expert:innenkreise verlassen und breitere Teile der Bevölkerung mit einschliessen. Die für TA-SWISS entwickelten Szenarien sollen somit dem gesellschaftlichen Aushandlungsprozess über wünschenswerte Zukünfte eine konkrete Grundlage geben.

Zukünfte demokratisch gestalten 

Die Szenarien (in Form der Kurzgeschichten und spekulativen Artefakte) werden von April bis Oktober 2021 im Polit-Forum Bern ausgestellt. Die Exponate sollen das Publikum dazu animieren, sich mit wünschenswerten Zukünften für die Demokratie auseinanderzusetzen und selbst Zukunftsszenarien zu formulieren.

Das hilft uns pro-aktiv zu bleiben: Erst wenn wir eine geteilte Vorstellung davon haben, was eine wünschenswerte Zukunft ist, können wir als Gesellschaft gezielt darauf hinarbeiten. Wenn wir wissen, wohin wir wollen, können wir die Gelingensbedingungen dafür ableiten. Wenn wir wissen, wohin wir auf keinen Fall wollen, können wir frühzeitig Gegenmassnahmen einleiten. Das eröffnet uns Handlungsoptionen für die Gegenwart.

Fest steht, welche Zukunft genau wünschenswert ist und welche nicht, muss demokratisch ausgehandelt werden. Das tun wir, indem wir uns unterschiedliche Zukünfte ausmalen und darüber diskutieren. Das Nachdenken über Zukunft ist somit ein wichtiger Schritt der Partizipation und folglich Teil der Demokratie. Denn wie die Science-Fiction-Autorin Ursula K. Le Guin so schön sagte: 

«Man kann etwas real machen, indem man es benennt.»