Eine grüne Politikerin in ungewohnter Koalition mit Autofahrenden – wie kommt es dazu? Und was hat das mit der Digitalen Gesellschaft zu tun?
Der Kantonsrat des Kantons Luzern hatte im Oktober 2022 fünf Änderungen am kantonalen Polizeigesetz (PolG/LU) beschlossen. Kantonsrätin Rahel Estermann, Vorstandsmitglied der Digitalen Gesellschaft, gelangte zusammen mit anderen Privatpersonen dagegen im Februar 2023 an das Bundesgericht. Dieses hat Mitte Oktober 2024 eine Beschwerde gegen die beschlossenen Änderungen des PolG/LU teilweise gutgeheissen. Es hob somit die Regelung zur automatischen Fahrzeugfahndung und Verkehrsüberwachung sowie zum polizeilichen Informationssystem-Verbund des Bundes und der Kantone (POLAP) auf und grenzte die Anwendung von «predictive policing», vorausschauender Polizeiarbeit, ein.
Es dauerte eine Weile, bis auch die Medien die Tragweite dieses Entscheides erkannten. Nun haben die französischsprachige Sendung «Mise au Point» und ihr deutschsprachiges Pendant «Rundschau» (ab 16’53) dem Ereignis den gebührenden Platz einberaumt. Wir nehmen die Gelegenheit wahr, die Geschichte hinter diesem Erfolg gründlich zu dokumentieren und diejenige Person zu befragen, die wesentlich dazu beigetragen hat.

Danke, dass du dir Zeit genommen hast für dieses Interview. Du hast im Oktober 2024 einen bedeutenden Sieg vor Bundesgericht errungen: Worum ging es?
In der Revision des Luzerner Polizeigesetzes hat es verschiedene problematische Punkte, weil sie nicht mit den Grundrechten vereinbar sind. Wir hatten uns bereits auf parlamentarischem Weg dagegen gewehrt, der Datenschutzbeauftragte stand dem Vorhaben sehr kritisch gegenüber, aber am Schluss konnten wir die Vorlage im Parlament nicht verbessern.
Problematisch war die automatische Fahrzeugfahndung und Verkehrsüberwachung, weil sie sehr weitgehend umgesetzt werden sollte. Im Kanton Luzern wollte man nicht nur Nummerschilder aufnehmen, sondern auch Fahrzeug-Insass:innen, somit auch deren Gesichter. Das bedeutet biometrische Gesichtserkennung. Und das auch noch sogenannt anlasslos: Man überwacht auf allen Luzerner Strassen andauernd und ohne bestimmten Vorfall oder Verdacht. Man hätte damit auch Bewegungsprofile der Verkehrsteilnehmenden erstellen können.
Es ging aber auch um die Anwendung des «predictive policing». Dabei versucht die Polizei, aufgrund bestehender Daten zu prognostizieren, was als nächstes geschieht, und wer als nächstes kriminell wird. Drittens wollte man mit der Revision die Polizei-Datenbanken der verschiedenen Kantone und des Bundes vernetzen und Daten umfassend austauschen.
Du warst ja im Kantonsrat, als diese Gesetzesrevision durchgewinkt wurde, hast mitgestimmt und bist unterlegen; daraufhin hast du Beschwerde gegen diesen Entscheid eingereicht: Ist das nicht Zwängerei – kannst du mit demokratisch gefällten Entscheiden nicht leben?
(lacht) Eine gute und berechtigte Frage. Wir sind im parlamentarischen Prozess unterlegen, das ist so. Zu einer Demokratie gehört aber auch der Rechtsstaat. Dazu gehört, dass demokratische Entscheide die Grund- und Menschenrechte von Einzelnen nicht allzu stark und unberechtigt einschränken dürfen. Dies haben wir das Bundesgericht prüfen lassen. Ein weiterer Grund für den gerichtlichen Weg: Es sind Fragen, die auch andere Kantone beschäftigen. Das erwirkte Bundesgerichtsurteil gibt nun Leitplanken vor für die gesamte Schweiz, für alle Kantone.
Auch in anderen Kantonen, wie dem Kanton Zürich oder dem Kanton Graubünden, sollten ähnliche Befugnisse geschaffen werden. Sind sie nun vom Tisch?
Es handelt sich um ein Leiturteil, also mit Signalwirkung weit über Luzern hinaus. In verschiedenen Kantonen wurde daraufhin ein Stopp eingelegt, beispielsweise Nidwalden. Der Kanton Zürich hat das Vorhaben massiv entschlackt, in anderen Kantonen wartet man ab und schielt auf den Bund. Auch die Konferenz der Kantonalen Justiz- und Polizeidirektor:innen (KKJPD), die hier eine Koordinationsfunktion einzunehmen versucht, will das Ganze genauer untersuchen.
Es handelt sich aber um einen Sieg auf Zeit: Die Bestrebungen, diese Technologien zu nutzen, werden nicht nachlassen. Als Digitale Gesellschaft sind wir bestrebt, dass die Technologien nur dann eingesetzt werden, wenn sie gerechtfertigt und möglichst Privatsphäre-freundlich ausgestaltet sind. Wir wollen eine offene und freiheitliche Gesellschaft, keine mit unnötiger Überwachung von Personen.
Definitiv vom Tisch ist vorerst die optische Erfassung von Insass:innen, also eine biometrische Gesichtserkennung in den Autos, wie es das Luzerner Gesetz wollte. Das haben auch verschiedene Städte inzwischen verboten, weil es ein massiver Eingriff in die Persönlichkeitsrechte ist, in unsere Bewegungs-, Versammlungs- und Meinungsfreiheit. Als Digitale Gesellschaft setzen wir uns schon seit längerem dafür ein, dass sie in der ganzen Schweiz verboten wird.

Du sprichst es an… Ich wohne im Kanton Luzern, fahre aber nie Auto – hab nicht mal einen Führerausweis: Warum geht mich das etwas an?
(Lächelt:) Ja, es ist eine verkehrte Welt, dass ich mich als Grüne gegen die SVP für die Anliegen der Autofahrenden einsetze. Im Ernst: Die Überwachung der Autofahrenden ist nur ein Kapitel in einer langen Abfolge von Bestrebungen, durch neue Technologien vermehrt Überwachung zu ermöglichen. Das hat sich bereits mit den Videokameras verstärkt, mit biometrischen Daten sowieso.
Wir hinterlassen inzwischen eine Unmenge an Datenspuren, auch mit dem Smartphone. Das erlaubt es je länger je mehr, die Gesellschaft zu vermessen, zu überwachen und nachzuzeichnen, was du alles tust im Leben: Wo du dich bewegst, mit wem du dich triffst.
Es geht also um eine Grundsatzdiskussion. Aktuell führen wir sie bei den Autofahrenden, aber das kann auch schnell Velofahrer oder Fussgängerinnen betreffen. Flugpassagiere sind eh schon extrem stark überwacht. Insgesamt gilt: Wir wollen diese anlasslose Massenüberwachung nicht. Unabhängig davon, ob es Autofahrende betrifft oder andere: Wenn wir eine liberale und demokratische Gesellschaft wollen, ist es äusserst wichtig, dass wir uns dafür einsetzen, dass möglichst wenig Überwachung stattfindet. Und nur dann, wenn es legitime Gründe dafür gibt.
Am Winterkongress hast du eindrücklich geschildert, wie es dazu kam, dass du nach dem Entscheid des Kantonsrats mit anderen 14 Personen Beschwerde gegen das revidierte Gesetz erhoben hast. Im Grunde genommen kann das ja jede:r von uns tun, doch deine Schilderungen hinterliessen bei mir eher das Gefühl, dass ich als «Otto Normalbürger» das nie hätte stemmen können.
Es ist schon ein Aufwand, aber bewältigbar, wenn du auf ein gewisses Netzwerk zurückgreifen kannst. Drei Komponenten waren dabei wichtig:
- Es ist gut, wenn du nicht alleine bist. Wir fanden uns relativ einfach, weil sich zwei politische Parteien aus dem Kantonsrat dagegen gewehrt hatten.
- Du brauchst eine Anwaltskanzlei, die auch darauf spezialisiert ist. Da konnte ich auf die Unterstützung meines Vorstandskollegen bei der Digitalen Gesellschaft, Rechtsanwalt Viktor Györffy, zählen.
- Du brauchst Geld, um Anwaltskanzlei und Gerichtskosten zu bezahlen. Da wurden wir von den zwei Parteien mit einigen tausend Franken unterstützt (herzlichen Dank!).
Aber du hast schon recht: Als einfache Person, die sich nicht gross in Parteien und Zivilgesellschaft auskennt und kein entsprechendes Netzwerk hat, sind das schon relativ hohe Hürden. Aber: Man kann auch viel erreichen. Ganz wichtig ist mir dabei: Das Urteil beweist, wie wichtig die Digitale Gesellschaft ist, weil sie kompetente Menschen versammelt, uns zusammenbringt und ermächtigt, uns im digitalen Zeitalter zurechtzufinden. In dem Sinn hilft uns jede Aktive, jeder Spender und insbesondere jedes Mitglied auf dem Weg hin zu einer freien und offenen Gesellschaft.