Die gesamte Kommunikation in der Schweiz unterliegt der Vorratsdatenspeicherung. Die Vorratsdatenspeicherung erfasst flächendeckend und unabhängig von jedem Verdacht die gesamte Bevölkerung. In der Theorie ist ungefähr bekannt, welche Vorratsdaten erfasst werden. Es fehlte bislang aber an praktischen Beispielen, die für die Schweiz zeigen, was sich tatsächlich alles aus den Vorratsdaten ableiten lässt.
Der grüne Nationalrat Balthasar Glättli hat deshalb einen Teil seiner Vorratsdaten aus sechs Monaten für eine Visualisierung zur Verfügung gestellt. Im Ergebnis ergeben diese Vorratsdaten das, was Geheimdienste und Strafverfolgungsbehörden als Profil bezeichnen – ein umfassendes Bild über das gesamte Leben der überwachten Person: Wann arbeitet und schläft Balthasar Glättli? Wen trifft er regelmässig, mit wem kommuniziert er häufig? Wo wohnt er und wo überall sonst noch trifft man ihn regelmässig an?
Seit 10 Jahren müssen Anbieterinnen von Telefon- und Internet-Diensten in der Schweiz das Kommunikationsverhalten ihrer Nutzerinnen und Nutzer aufzeichnen. So wird beispielsweise aufgezeichnet, wer wann wen angerufen hat und wie lange Telefongespräche gedauert haben, wer wann und für welche Dauer auf das Internet zugegriffen hat, wer wann wem eine E-Mail oder SMS gesendet hat und an welchem Standort sich Mobiltelefone jeweils aufgehalten haben.
Die Vorratsdaten müssen für 6 Monate abgelegt und auf Verlangen an Strafverfolgungsbehörden herausgegeben werden. Nun soll die Aufbewahrungsdauer auf 12 Monate verdoppelt werden und auch eine Verwendung durch den Geheimdienst möglich sein (Revision des Bundesgesetzes betreffend die Überwachung des Post- und Fernmeldeverkehrs [BÜPF], neues Nachrichtendienstgesetz [NDG]).
Die verdachtsunabhängige Vorratsdatenspeicherung von Verbindungs-, Verkehrs- und Rechnungsdaten stellt einen schwerwiegenden Eingriff in die persönliche Freiheit dar. Betroffen von der Massnahme sind ausnahmslos alle, wobei bezogen auf den Grossteil der Bevölkerung nur ein hypothetisches Interesse an den Daten besteht.
Ein Nutzen der Vorratsdatenspeicherung konnte bislang nicht belegt werden. Es geht hier auch nicht, wie es der verharmlosende Begriff der Behörden suggeriert, um eine «rückwirkende Überwachung». Vielmehr handelt es sich um eine flächendeckende und präventive Überwachung von sämtlichen Nutzern und Nutzerinnen von Telefon-, E-Mail- und Internetdiensten – mit der Absicht, die Daten bei Bedarf gezielt auswerten zu können.
Welche umfassenden Erkenntnisse aus den Vorratsdaten über einen einzelnen Menschen gewonnen werden können, ist nur schwierig zu erfassen. Eine interaktive Visualisierung zeichnet deshalb nun aus 6 Monaten Vorratsdatenspeicherung das Leben des schweizerischen Nationalrats Balthasar Glättli nach: Aus diesen Vorratsdaten lassen sich detaillierte Bewegungsprofile, jeder einzelne Tagesablauf und das gesamte soziale Umfeld in eindrücklicher Klarheit bestimmen.
Die Visualisierung wurde als Koproduktion der Digitalen Gesellschaft Schweiz zusammen mit OpenDataCity, der «Schweiz am Sonntag», Watson.ch und Arte erstellt. Sie darf frei in eigene Medienangebote eingebunden werden:
- Visualisierung: www.digitale-gesellschaft.ch/vds-suisse/
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- Weiterführende Informationen: digiges.ch/vorratsdatenspeicherung/
- Französische Version: digiges.ch/cdp/
- Englische Version: digiges.ch/dr/
Am 8. April 2014 hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) die EU-Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung mit sofortiger Wirkung für ungültig erklärt. Der EuGH beurteilte die europäische Vorratsdatenspeicherung als unverhältnismässig und in vollem Umfang als unvereinbar mit der Grundrechtecharta der EU. Anlass für das deutliche Urteil waren Klagen aus Irland und Österreich gegen die nationalen Umsetzungen der europäischen Vorratsdatenspeicherung.
Die Digitale Gesellschaft Schweiz hat bereits im Februar 2014 beim zuständigen «Dienst Überwachung Post- und Fernmeldeverkehr» (Dienst ÜPF) ein Gesuch auf Unterlassung der Vorratsdatenspeicherung eingereicht und im März 2014 den Ständerat vergeblich gebeten, die Vorratsdatenspeicherung zu sistieren. Da die Schweiz kein Verfassungsgericht kennt, wird die Beschwerde nötigenfalls bis zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) weitergezogen. Der EGMR würde voraussichtlich gleich wie der EuGH entscheiden, denn die Vorratsdatenspeicherung in der Schweiz betrifft genau die gleichen europäischen Grundrechte.