Anonyme Organisatoren

Der Ständerat hat am Mittwoch den Bundesrat beauftragt, zu untersuchen, wie die Berner Standesinitiative umgesetzt werden könnte. Diese verlangt, dass die Anonymität von Organisatoren aufgehoben werden kann, wenn über soziale Medien wie Facebook oder Twitter zu Demonstrationen und Grossanlässen aufgerufen wird. (Bericht im Tages-Anzeiger.)

Der angedachte Eingriff in die Freiheit, über das Internet privat bzw. anonym kommunizieren zu können, kann von der Perspektive der Grundrechtebzw. Menschenrechte her überhaupt nicht akzeptiert werden. Ausserdem wäre diese Idee für den Schweizer Staat nicht durchsetzbar.

Zur Meschenrechtsperspektive kann man den Report of the Special Rapporteur on the promotion and protection of the right to freedom of opinion and expression, Frank La Rue, vom 7. April 2013 zitieren:

23. In order for individuals to exercise their right to privacy in communications, they must be able to ensure that these remain private, secure and, if they choose, anonymous. Privacy of communications infers that individuals are able to exchange information and ideas in a space that is beyond the reach of other members of society, the private sector, and ultimately the State itself. Security of communications means that individuals should be able to verify that their communications are received only by their intended recipients, without interference or alteration, and that the communications they receive are equally free from intrusion. Anonymity of communications is one of the most important advances enabled by the Internet, and allows individuals to express themselves freely without fear of retribution or condemnation.

Dieser Bericht ist in einer sehr sorgfältigen Sprache verfasst. Das «must» des ersten Satzes drückt aus, dass es sich nach der sorgfältigen professionellen Einschätzung des zuständigen UN-Sonderbeauftragten um eine zwingende Folgerung des internationalen Menschenrechts-Rechts handelt. Das «should» im dritten Satz des zitierten Absatzes drückt nur eine Empfehlung aus.

Die gesetzliche Einschränkung von Menschenrechten ist nur zulässig, wenn das Ziel der Einschränkung im Schutz eines anderen Menschenrechts besteht, und wenn die Einschränkungen im Hinblick auf dieses Ziel notwendig und verhältnismässig sind. Bei dem Wunsch, die Organisatoren von Demonstrationen und anderen Grossanlässen zu kennen, bzw. der Angst vor Demonstrationen und anderen Grossanlässen bei denen nicht bekannt ist, wer dazu aufruft, handelt es sich überhaupt gar nicht um ein solches durch ein anderes Menschenrecht legitimiertes Ziel. Die Frage der Verhältnismässigkeit stellt sich damit gar nicht erst.

Die Schweiz würde sich also einer Menschenrechtsverletzung schuldig machen.

Sogar wenn die Standesinitiative auf Demonstrationen und andere Grossanlässe eingeschränkt gewesen wäre, bei denen mit Ausschreitungen zu rechnen ist, würde sich an dieser Analyse nichts Wesentliches ändern, solange es nicht direkt um Aufrufe zur Gewalttätigkeit geht: Es ist zwar selbstverständlich ein legitimer Wunsch, dass das Ausarten von Demonstrationen und anderen Grossanlässen in Ausschreitungen mit Sachbeschädigungen möglichst verhindert werden sollte, aber es handelt sich dabei nicht um ein Menschenrecht und damit nicht um etwas, das Menschenrechte implizit einschränkt. Im internationalen Menschenrechts-Recht ist bei manchen Menschenrechten vorgesehen, dass Einschränkungen im Interesse der öffentlichen Ordnung möglich sind, aber das gilt nur jeweils spezifisch für die einzelnen Menschenrechte, für die explizit eine solche Einschränkung besteht. Der Staat darf Randalierer verhaften, aber er darf nicht aus Angst vor Randalierern das Menschenrecht auf Privatsphäre in der Kommunikation verletzen.

Zur Durchführbarkeit der Idee: Die Schweiz müsste auf Daten der Firmen Zugriff nehmen, die die betreffenden Social Networks betreiben. Es handelt sich um US-Firmen. Die Schweiz müsste also jeweils entweder dieUS-Justiz oder etwa die NSA davon überzeugen, zur Beantwortung von solchen Anfragen von Schweizer Behörden Menschenrechtsverletzungen zu begehen. Nun scheint der NSA der Menschenrechtsaspekt zwar egal zu sein, aber es dürfte absolut illusorisch sein, zu meinen, die Amerikaner würden der Schweiz Zugang zu solchen Informationen gewähren, solange die Schweiz nicht allen Überwachungs-Wünschen seitens der USA freigiebig nachkommt.

So wird uns wohl nichts anderes übrig bleiben, als nach den Ursachen zu fragen, wir es dazu kommen kann, dass viele Menschen so eine grosse Wut im Bauch haben, dass bei manchen Demonstrationen und anderen Grossanlässen eine reale Gefahr von Ausschreitungen besteht. Ursachenforschung und Verbesserung der sozialen Gerechtigkeit sind ohne Menschenrechtsverletzung möglich!