Massenüberwachung vor dem Bundesverwaltungsgericht

Digitale Gesellschaft fordert umfangreiche Untersuchung zur Kabelaufklärung

Im Dezember 2020 hat das Schweizerische Bundesgericht eine Beschwerde der Digitalen Gesellschaft gegen die Kabelaufklärung vollumfänglich gutgeheissen. Nun muss das Bundes­verwaltungsgericht prüfen, ob diese Form der Massenüberwachung die Grundrechte der Betroffenen verletzt und – um einen wirksamen Grundrechtsschutz sicherzustellen – in letzter Konsequenz einzustellen ist. Wir haben entsprechende Beiweisanträge gestellt. So sind Expert:innen, wie Constanze Kurz und Edward Snowden, aber auch die Aufsichtsbehörden und die durchführenden Stellen zu befragen.

Bundesgericht heisst Beschwerde gegen Massenüberwachung gut

Die Kabelaufklärung ist ein Teil der anlasslosen und verdachtsunabhängigen Massenüberwachung durch den schweizerischen Geheimdienst. Mit der Kabelaufklärung wird der Datenverkehr zwischen der Schweiz und dem Rest der Welt umfassend erfasst und überwacht. Die Kabelaufklärung wurde mit dem neuen Nachrichtendienstgesetz (NDG) in der Schweiz legalisiert.

Die Digitale Gesellschaft hatte Beschwerde am Bundesverwaltungsgericht gegen die anlasslose und verdachtsunabhängige Massenüberwachung durch den Nachrichtendienst des Bundes (NDB) erhoben. Allerdings hatte das Bundesverwaltungsgericht den Beschwerdeführerinnen und Beschwerdeführern der Digitalen Gesellschaft damals das Recht auf Beschwerde verweigert. Es hatte seinen Entscheid mit Verweis auf das datenschutzrechtliche Auskunftsrecht begründet. Damit, so das Bundesverwaltungsgericht, bestünde die Möglichkeit, die Verletzung von Grundrechten durch den Geheimdienst zu rügen und damit eine «rechtmässige» Überwachung gerichtlich durchzusetzen.

Das Bundesgericht hat dieser Darstellung widersprochen: Mit Urteil vom 1. Dezember 2020 wurde die Beschwerde der Digitalen Gesellschaft vollumfänglich gutgeheissen und das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts aufgehoben. Das Bundesgericht hat das Bundesverwaltungsgericht angewiesen, zu prüfen, ob das «System» der Funk- und Kabelaufklärung die Grundrechte der Betroffenen verletzt und – um einen wirksamen Grundrechtsschutz sicherzustellen – in letzter Konsequenz einzustellen ist.

Beweisanträge an das Bundesverwaltungsgericht

Nun hat das Bundesverwaltungsgericht das Verfahren wieder aufgenommen. Wir hatten Gelegenheit, Beweisanträge zu stellen – und haben dies auch ausführlich gemacht.

Um die Vollzugspraxis würdigen zu können, ist auf der eine Seite zu untersuchen, wie der Beschwerdegegner in der Praxis vorgeht. Es ist dabei insbesondere zu prüfen, wie festgelegt wird, welche Datenströme mit welchen Schlagworten von der Funk- und Kabelaufklärung erfasst werden und was in der Folge mit den erfassten Daten geschieht. Im Verfahren Big Brother Watch hat der EGMR im Detail untersucht, wie bei der dort in Frage stehenden Massenüberwachung festgelegt wird, welcher Datenverkehr erfasst wird, wie in der Folge aus dem erfassten Datenverkehr Kommunikation gefiltert und zu einem erheblichen Teil ausgeschieden wird, mit welchen Kriterien die verbleibende Kommunikation durchsucht wird und wie der verbleibende Teil der Kommunikation von einem Analysten untersucht wird. Mit einbezogen wurde dabei die stattfindende Überprüfung bzw. Genehmigung durch Aufsichtsorgane.

Auf der anderen Seite erscheint es zur Beurteilung der Praxis der Funk und Kabelaufklärung als erheblich, welche Art von Datenverkehr in der Praxis von der Funk- oder Kabelaufklärung erfasst wird. Wesentlich ist insbesondere, ob und in wie weit überhaupt eine einigermassen zielgerichtete Erfassung von Datenverkehr der Art, auf den der Beschwerdegegner bei der Massnahme abzielen will und abzielen darf, möglich ist, ob also durch die Wahl der Kommunikationsströme (namentlich des für die Ausleitung gewählten Knotens) und der Stichworte eine effektive Eingrenzung auf relevanten Datenverkehr erzielt werden kann. Umgekehrt ist massgeblich, dass der Datenverkehr unbescholtener Personen möglichst wenig von der Massnahme betroffen ist und dass ausreichend Gewähr dafür besteht, dass der Datenverkehr unbescholtener Personen nicht in den Filtern der Massenüberwachung als Treffer hängen bleibt und dadurch erfasst bleibt und weiter bearbeitet wird. Auch damit setzte sich der EGMR im Verfahren Big Brother Watch einlässlich auseinander.

Und weiter:

Es sei in diesem Zusammenhang insbesondere noch einmal auf die Vernehmlassung des Beschwerdegegners vom 12. Januar 2018 hingewiesen, in der der Beschwerdegegner Ausführungen macht, welche mit den effektiven technischen Gegebenheiten nicht in Übereinklang zu bringen sind. Augenscheinlich ist dies insbesondere bei den Ausführungen dazu, wie eruiert werden soll, welche Fasern zum Beispiel nur inländischen Verkehr enthalten sollen, welcher nicht verwendet werden darf, und wie festgestellt werden können soll, «dass auf einer Faser viel Verkehr aus Syrien durchläuft». Die Beschwerdeführenden haben mehrmals detailliert aufgezeigt, dass sich die entsprechenden Ausführungen des Beschwerdegegners nicht auf die effektiven technischen Gegebenheiten abstützen und somit kein akkurates Abbild der Praxis der Kabelaufklärung geben können (vgl. insb. Ziff. II.B.42. ff. der Beschwerde ans Bundesgericht vom 8. Juli 2019).

Damit und nachdem sich bei der Beurteilung der sich hier stellenden Fragen nicht zuletzt technische Frage stellen, sind in diesem Zusammenhang externe Expertinnen und Experten zu befragen, welche über den Sachverstand zu den hier massgeblichen Materien verfügen.

Entsprechend haben wir folgende Personen vorgeschlagen:

  • Constanze Kurz (promovierte Informatikerin und Sachverständige im deutschen Bundestag, u.a. vor dem NSA-Untersuchungsausschuss)
  • Edward Snowden (ehemaliger Geheimdienstmitarbeiter und Enthüller der NSA-Überwachungsmassnahmen)
  • Nicky Hager (investigativer Journalist u.a. zu ECHELON)
  • Erich Möchel (Journalist und Experte im EU-Parlament)
  • Hernani Marques Madeira (Experte für Computerlinguistik und Massenüberwachung)
  • Fredy Künzler (Inhaber und CEO des in der Schweiz tätigen Internetanbieters Init7)

Darüber hinaus sind aber auch folgende Stellen zu befragen:

  • Eidgenössische Geschäftsprüfungsdelegation (GPDel)
  • Unabhängige Aufsichtsbehörde über die nachrichtendienstlichen Tätigkeiten (AB-ND)
  • Richter:innen des Bundesverwaltungsgerichts, welche die Aufträgen zur Kabelaufklärung genehmigen
  • Bundesrat, insbesondere die Vorsteher:innen von VBS, EDA, EJPD
  • NDB sowie das Zentrum für elektronische Operationen (ZEO)
  • Irene Khan (Berichterstatterin für Meinungsfreiheit im Amt des UN-Hohen Kommissars für Menschenrechte)
  • Beschwerdeführenden

Beschwerdeführerinnen und Beschwerdeführern der Digitalen Gesellschaft sind Serena Tinari (Recherche-Journalistin und frühere Präsidentin von investigativ.ch), Noëmi Landolt (Journalistin und Buchautorin «Mission Mittelmeer»), Marcel Bosonnet (Rechtsanwalt von Edward Snowden), Andre Meister (netzpolitik.org), Heiner Busch (Solidarité sans frontières) sowie Norbert Bollow und Erik Schönenberger (Digitale Gesellschaft).

Weiterführende Informationen:


Überwachung in der Schweiz: Aktivitäten des NDB, Handhabe und Rechtsprechung

Vortrag am Winterkongress von Viktor Györffy (Rechtsanwalt und Vorstand Digitale Gesellschaft, Präsident grundrechte.ch)


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